Episodios

  • "Verschlossene Weihnachtstüren" (Eduard von Keyserling)
    Dec 22 2025

    Zugegeben: Die Frauenfiguren in dieser Geschichte wirken auf den ersten Blick recht naiv. Auf den zweiten ist die Lage allerdings anders, wie so oft in der Literatur. Denn es sind eben die drei weiblichen Figuren, die ihren jeweils eigenen Weg gehen, mit Kurt, mit Alfred, mit Oskar – nur eben nicht mit Helmar, dem Baron. Er sucht unentwegt feminine Gesellschaft, ständig aus „auf die Gegenwart einer schönen Frau“. Und in der Geschichte scheinen ja auch sämtliche Türen zu den Frauen anfangs geöffnet, denn sie mögen und loben ihn für seine klugen, bedeutenden Worte. Eine sammelt seine Aussprüche in einem Buch, der anderen wird gar „schwindelig“ und sie fühlt sich „glücklich“, wenn sie Helmar zuhört. Oha! Das Sprechen wird früh in dieser Erzählung an körperliches Empfinden gekoppelt, Sprache wirkt wie an Erotik gebunden, zumindest in der Wahrnehmung des Barons – zugleich an Ambivalenz und Verzicht. Denn Helmar muss bei seinem ersten Weihnachtsbesuch Helenes Haus verlassen (er stört den Ehemann), bei seinem zweiten Verenas Zuhause, weil sie mit Alfred Weihnachten feiern möchte, ihrem neuen Verlobten – das seien halt „so Familienereignisse“, sagt sie. Den zweimal Abgelehnten, Ausgeschlossenen erfüllt nun „nur ohnmächtiger Zorn gegen all die großen Worte, die er zwischen sich und diesem schönen Mädchen (Verena) aufgetürmt hatte und die ihm den einfachen, geraden Weg versperrten, den der gute Alfred gegangen war“.

    Dies ist eine für die Erzählung selbst zentrale Aussage! Dem Baron wird denn auch bewusst, wie alleinstehend er ist. Selbst sein Diener ist an diesem Weihnachtsabend bei seiner Freundin samt Familie – eine Vorstellung, die Helmar anfänglich noch amüsiert hatte. Doch da ist ja noch die blonde Marie, die in der Weinstube. „Keiner würde dort seine großen Worte zitieren“, glaubt er. „Das war es, wonach er sich sehnte.“ Doch auch bei Marie kann er nicht bleiben. Da ist wieder ein anderer. Wenig später, am Ende der Geschichte, sitzt Helmar „trübselig“ am Tisch, allein mit seinem Wein.

    Eduard von Keyserlings extrem eindrucksvolle Geschichte rund um das Frau/Mann-Verhältnis in aristokratischen und bürgerlichen Kreisen, um Sprache, Genuss, Erotik, Begehren, aber auch um Überheblichkeit, Arroganz und den Wunsch nach Gemeinschaft wirkt so eindrucksvoll, weil sie in ihrer diskreten, immer dezent bleibenden Sprache exakt das offenbart und gewissermaßen widerspiegelt, was der Hauptfigur im Weg steht zum eigenen Glück. Die Erzählung bleibt in jenem Diskurs, den sie ihrem Protagonisten zuschreibt. Große Kunst! Und was für ein Titel: „Verschlossene Weihnachtstüren“! Dieser starke Text erschien zuerst im Jahr 1907 und wird hier gelesen von Volker Drüke.

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    24 m
  • "Das Erbe" (Virginia Woolf)
    Dec 6 2025

    Kein Hinweis. Keine Ahnung. Keine Idee. Nichts spürte Gilbert Clandon von der nahenden Katastrophe. Und die raste längst auf ihn zu. Beschäftigt in politischen Kreisen der Londoner „upper class“, also stets mit scheinbar wichtigen gesellschaftlichen Treffen und Entscheidungen befasst, bemerkte er nicht, was im Privaten ablief. Angela, seine Frau, liebte einen anderen. Solange sie lebte, hatte er davon nichts gewusst. Und nun? Ihre Tagebücher geben nach ihrem Tod Auskunft über ihr Leben. Doch auch in diesen Aufzeichnungen bleibt vieles uneindeutig. Als hätte sie befürchtet, dass er sie irgendwann lesen würde, hatte Angela unklar geschrieben, offenbar immer die Gefahr des Entdeckt-Werdens spürend. „Wer ist B.M.?“ wird zu Gilberts Zentralfrage nach der Lektüre der Schriften. Zwei weitere, die sich dem Leser und der Hörerin schon früh aufdrängen, lauten: War es Suizid? Und: Was hat B.M. mit Angelas möglichem Freitod zu tun?

    Die mehrbändigen Tagebücher und ihr Inhalt sind die einzigen Erbstücke, die Angela ihrem Mann hinterlässt. Ein schweres, ein bitteres Erbe. Zugleich ist nirgends in dieser Erzählung so etwas wie Bewertung oder Parteinahme zu lesen. Das liegt ihm ganz fern. Leserinnen und Hörer gleiten gleichsam in Gilberts Gedankenwelt (er hat ja überlebt), werden dann aber auch Zeugen einer alternativen Sichtweise. Virginia Woolf gelingt somit etwas, das selten in der Literatur gelingt: Sie stellt die Perspektive der anderen, verstorbenen Figur – Angela – gewissermaßen gleichberechtigt dar. Die gesamte Darstellung bleibt im literarischen Sinne gerecht, ausgewogen. Eine wohltuende Art der poetischen Balance, die auch inhaltlich ihre Funktion hat. Denn Gilbert erfährt durch die Lektüre der Tagebücher Wesentliches über seine Frau – das Ende ihrer Zuneigung zu ihm, die Annäherung an einen anderen Mann. Und wir erfahren von Angelas Wünschen, ihrer Sehnsucht nach engem zwischenmenschlichen Kontakt – von Gefühlen, die Gilbert auch im Zuge des Lesens noch nicht zu reflektieren imstande ist. Vielschichtig ist das Ganze – auch politisch, weltanschaulich.

    „Das Erbe“ stammt aus dem Jahr 1940, ist zweifellos eine der stärksten Erzählungen von Virginia Woolf und wird hier in der Übersetzung von Brigitte Walitzek gelesen und uns ganz nahe gebracht von Annette Hoppe.

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  • "Der Kuss" (Anton Tschechow)
    Nov 17 2025

    Eine Gesellschaft, ein Empfang. Offiziere, ein General, auch Frauen sind da. Eine Fliederfarbene, eine Blonde ... Es wird getanzt, Kognak wird gereicht. Und offenbar fühlen sich all die zunächst als müde beschriebenen Gäste in dem aristokratischen Herrenhaus wohl, angeregt. Der schüchterne Rjabowitsch jedoch, der mit dem „Luchsbackenbart“ (schon früh spielen Bärte in dieser Erzählung eine Rolle), wirkt wie überfordert von all dem. Und verlässt den erotisierten Ort, schaut anderen beim Billard zu, fühlt sich dann aber auch dort deplatziert, verirrt sich in all den Gemächern und landet in einem dunklen Raum. „Na endlich ...“, hört er eine Frauenstimme sagen, begleitet von Duft, schlanken Armen, die sich aus dem raschelnden Kleid um ihn schlingen, und zarter, warmer Haut. Alle Sinne werden aktiviert, nur das Sehen fehlt. Und dann ... der titelgebende Kuss! Anschließend ein Schrei der Dame, zu ihrem Entsetzen wurde ihr die Fehlhandlung klar – spätestens wohl, als sie den Luchsbackenbart spürte. Von wem auch immer der Kuss stammte, er bezaubert Rjabowitsch, der – wie es heißt – noch nie eine anständige Frau um die Taille gefasst hatte. Möglicherweise unanständige. Das wissen wir nicht. Doch eins ist klar: Die Küsserin war nicht nur anständig, sie war natürlich auch hinreißend. War es etwa das „fliederfarbene Fräulein“, das ihm so gefiel? Oder doch die Blonde? Rjabowitsch macht Zukunftspläne, die eine Frau einschließen, die er nicht kennt. Dass all seine Wunschideen unrealistisch bleiben, lässt Tschechow ihn einige Zeit später am Flussufer spüren, und er stellt dies auf symbolische Weise dar. „Hier“, schreibt der Germanist Peter von Matt, „haben die jungen Frauen gebadet, wahrscheinlich auch die eine, die ihn im Dunkeln küsste.“ Und das raue, kalte Badetuch, das er am Steg berührt? „Dies ist das genaue Gegenteil zu den weichen, warmen Armen, die sich ihm an jenem Abend um den Hals legten. So wie damals Haut und Nerven früher auf das Ereignis reagierten als sein langsames Gehirn, ist es auch jetzt die fühlende Hand, die ihm die Botschaft sendet: Mit dem Glück ist es nichts, und alles ist aus! Die Literatur denkt in Szenen.“ Und in Symbolen. – Anton Tschechows berühmte Erzählung rund um das Spüren erschien 1887 und wird hier gelesen von Thomas Gehringer.

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    44 m
  • "Ein Besuch im Bergwerk" (Franz Kafka)
    Nov 3 2025

    Ach, Kafka! Was ist das denn schon wieder für ein Meisterstück!? Arbeiterliteratur der anderen Art? Ging es in jener der 1960er- und 70er-Jahre stets um die harte Realität der werktätigen Bevölkerung, machst du das alles natürlich ganz anders. Obwohl hier, in „Ein Besuch im Bergwerk“, anfangs, im ersten Satz, alles noch seine Ordnung hat. Die Hierarchie eines Bergwerk-Unternehmens vergangener Tage wird zwar unauffällig, doch klar dargestellt. Im zweiten geht es noch eine Hierarchiestufe höher, erwähnt werden eben nicht – wie zuvor – die Ingenieure der Zwischenstufe und die Stollenarbeiter auf der buchstäblich untersten Ebene, sondern die Direktoren. Doch dann wirbelt der scheinbar unscheinbare Text gewohnte Ordnungen und Kategorien durcheinander und wird so zu einer ästhetischen Sensation. Denn es ist offenbar einer der Arbeiter, der hier erzählt, der alle Bergwerksbesucher aus der Ingenieur-Ebene präzise beschreibt, deren Verbindungen und Abhängigkeitsverhältnisse scharf beleuchtet und Vermutungen darüber anstellt, wer in welcher Beziehung zu wieder anderen steht, welche Funktion dieser oder jener auf den höheren Etagen möglicherweise auszuüben pflegt – und das mit einem Selbstverständnis, das wir angesichts der hierarchischen Verhältnisse nicht vermuten würden. Der wohl jüngste Mitarbeiter schiebe, so lesen wir, „eine Art Kinderwagen, in welchem die Messapparate liegen“, vor sich her, so kostbar, dass sie „tief in zarteste Watte eingelegt“ sind. Der Wagenschieber kenne die Funktion der Geräte nicht, ein anderer aber verstehe „offenbar die Apparate von Grund aus und scheint ihr eigentlicher Verwahrer zu sein. Von Zeit zu Zeit nimmt er (...) einen Bestandteil der Apparate heraus, blickt hindurch, schraubt auf oder zu, schüttelt und beklopft, hält ans Ohr und horcht“. Und dann ist da noch der unbeschäftigte Diener, der jenen Hochmut, den die Herren Ingenieure längst abgelegt haben, „in sich aufgesammelt zu haben“ scheint. Und so weiter. Auf diesem Sprachniveau wird hier erzählt. So souverän, so gekonnt, so komisch im eigentlichen Sinne werden Miniatur-Porträts der Gäste geboten. Dies ist also keine Arbeiterliteratur, es geht nicht um das Werken unten im Stollen – es geht um die ungewohnten Gäste dort. All die Beschreibungen des erzählenden Arbeiters – oder sollten wir besser sagen: des arbeitenden Erzählers? – sind verfasst in einer sehr eigenen, einer deutlich literarischen Sprache, mit dosiert und präzise eingesetztem Humor und gewagten Querverbindungsideen bezüglich der Figuren, welche die Gäste ja nun geworden sind. Um so selbstbewusst erzählen zu können, muss ein Geschichtenerzähler schon sehr geübt sein. Er tarnt sich hier als dokumentarisch schreibender, berichterstattender Bergmann – so, als wäre er gar nicht der Schriftsteller, der er aber nun einmal eindeutig ist: ein moderner literarischer Erzähler im Gewand des Stollenarbeiters oder im Arbeitsanzug des Bergwerkers, jedenfalls einer, der im falschen Kostüm steckt.

    Womit wir natürlich, liebe Leserinnen und Leser dieser Zeilen, beim wirklichen Autor und seiner Lebenssituation sind, beim dichtenden Versicherungsangestellten in Prag. Doch das ist eine ganz andere, biographische Geschichte. Die, die wir heute mit großer Überzeugung und Begeisterung präsentieren, ist ein aus den Tiefen der Erde bzw. Literaturgeschichte geborgener Erzählschatz, zuerst im Jahr 1920 erschienen und mehr als 100 Jahre später vorgelesen von Volker Drüke.

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    7 m
  • "Der Auftrag" (Honoré de Balzac)
    Oct 20 2025

    Als Leserin und Hörer sollten wir misstrauisch sein, wenn in einem literarischen Werk von einer „wahren Geschichte“ die Rede ist. Denn Dichter heißen ja so, weil sie ein Geschehen – ob wirklich stattgefunden oder frei erfunden – zu verdichten und auch zu erdichten wissen. Wertvolle künstlerische Texte sind alles andere als etwa Abbildung dessen, was allgemein Wirklichkeit, Wahrheit oder Realität genannt wird, auch wenn in unseren Tagen überall in der westlichen Welt Autofiktionen, Memoirs usw. veröffentlicht werden. In der andersartigen Literatur, also jener Kunst des Erzählens, in der auch gewöhnliche Ereignisse zu aufregenden Geschichten gestaltet werden, wird höchstens so getan, als hätte sich das Dargestellte tatsächlich ereignet.

    So auch in „Der Auftrag“ von Honoré de Balzac. Mitten im Todeskampf, so hören wir, wird ein adeliger Mann „von dem Gedanken an den Schrecken gepeinigt, der seiner Geliebten eingejagt werden würde, wenn sie seinen Tod plötzlich aus der Zeitung erführe“. Ein Zeichen der Liebe, der Zuneigung, der Rücksichtnahme, vor allem, wenn wir bedenken, dass sich dies im Kopf eines Sterbenden abspielt, in der finalen Zeit, in der ein gewisser Egoismus ja durchaus verständlich wäre. Doch hier ist es anders. Und so wird der Begleiter des Sterbenden zum Kurier seiner Botschaft an die Geliebte. Der Überlebende erzählt davon, wie er sein Ziel zu erreichen, seinen Auftrag zu erfüllen versucht und welche Emotionen diesen Weg begleiten. Er wird dadurch zum Erzähler. Und er wird vor landadeliger Kulisse zu einem äußerst diplomatischen Handeln gezwungen. Denn die Frau ist verheiratet! Der Bote wird Zeuge extrem unterschiedlicher Reaktionen auf die Nachricht. Diese und die „Geheimnisse dieser Ehe“ kennenzulernen, ist auch fast 200 Jahre nach dem Erscheinungsjahr der Geschichte noch immer bewegend. Sie war Teil des großen Balzac-Erzählprojekts „La Comédie humaine“ (Die menschliche Komödie) und erschien zuerst im Jahr 1836.

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    41 m
  • "Drei Wünsche" (Johann Peter Hebel)
    Oct 6 2025

    Es liegt nahe, hier zu schreiben: Heute geht es um die Wurst! Das stimmt zwar, ist aber doch zu albern. Daher nochmal von vorne:

    Es war einmal eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat (frei nach Peter Handke). Oder doch nicht? Doch nur im Märchen? Johann Peter Hebel jedenfalls war ein Pfarrer und Autor in der romantischen Märchenzeit und schrieb volkstümliche Geschichten, die er 1811 in einem Bauernkalender versammelte. Darin veröffentlichte er u.a. „Drei Wünsche“, einen Text, der zu einem Klassiker wurde und in dem es eben ums Wünschen geht. Zugleich spielt ein wirklich sehr gewöhnliches, literarisch aber ungewöhnliches Objekt eine bedeutende Rolle: die Bratwurst – ob mit Senf, ist nicht übermittelt (Ketchup gab’s im deutschsprachigen Kulturraum noch nicht). Und dann ist da noch ein Feenbesuch – der ist entscheidend.

    Das Ehepaar, das die Fee trifft, hat drei Wünsche frei und acht Tage Zeit, sich was zu überlegen. Das macht die beiden nervös, sie sprechen und handeln nun erst recht unbedacht. Bald geht es nur noch um die Wurst, die Bratwurst halt, die schließlich wie ein „Husarenschnauzbart“ unter der Nase der Frau hängt. Aus dem Plan einer möglicherweise zukunftsweisenden Wunscherfüllung wird nichts. Nichts als eine Bratwurst, die mal da ist, mal dort und schließlich wieder weg.

    Kalendergeschichten waren in längst vergangenen Zeiten durchaus in Mode und wichtig zur „Volkserziehung“. Literatur als Lehrmeisterin. So war das einmal. Und wer weiß? Vielleicht hat das Wünschen ja wirklich mal geholfen. In diesem kleinen Werk lässt es die Protagonisten jedenfalls ratlos zurück. Es liest Volker Drüke.

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    7 m
  • "Henry und Eliza" (Jane Austen)
    Sep 22 2025

    Die Literatur bietet Autorinnen und Autoren ein Feld für Ideen, Vorstellungen, Phantasien, die so wild oder verrückt und außergewöhnlich sein können, dass sie sie eben nur dort, auf diesem Feld, artikulieren können. Gerade in jungen Jahren wird gerne etwas ausprobiert, und das auch von Schriftstellerinnen, von denen die Leserschaft das überhaupt nicht erwarten würde. So hat Jane Austen in ihrem Frühwerk Texte geschrieben, die man/frau ihr nicht zugetraut hätte. So porträtiert sie in „Henry und Eliza“ eine Frau und beschreibt ihre Sozialisation in einer unerhörten Geschwindigkeit. Und immer wieder geschieht Eliza etwas Ungeheuerliches, was wohl auch mit ihr selbst zusammenhängt. Denn Eliza ist ein wundersames Wesen. Scheinbar ein Findelkind – das wird am Ende der Erzählung infrage gestellt –, kann sie bereits mit gerade mal drei Monaten sprechen. Und wird aufgenommen von englischen Adeligen – das ist ja mal ein sozialer Aufstieg! Doch sie passt nicht so ganz in die neue Umgebung, sie stiehlt – und wird vertrieben, und nun beginnt Elizas eigentlicher Aufbruch in die Welt, mit märchenhaften Zufällen und Auf- und Abstiegen, wie wir sie von Entwicklungsromanen kennen, die Jane Austen in späteren Jahren ja auch schrieb, mit denen sie berühmt wurde. Doch hier, in dieser Erzählung, geht alles extrem schnell. Szene folgt auf Szene, und manche ist deftig, derb und komisch im buchstäblichen Sinne. Etwa wenn Eliza bemerkt, dass ihre Kinder Hunger leiden, und dies „an dem Umstand, dass (sie) zwei ihrer Finger abbissen“! Das erinnert aus heutiger Sicht an Splatter-Szenen in Filmen, die erst 200 Jahre später entstanden. Jedenfalls geht das Ganze gut aus, Eliza kehrt zurück in die aristokratischen Gefilde. Und Henry, der Vater ihrer Kinder und im Titel immerhin an erster Stelle genannt? Ist da längst verstorben. Eliza aber, Eliza geht ihren Weg.

    Jane Austen hatte einen großen Einfluss auf die europäische Erzählliteratur im 19. Jahrhundert, insbesondere in Großbritannien, und schrieb diese Erzählung als junge Frau im Jahr 1790. Die Übersetzung von Melanie Walz liest für uns Monika Drüke, und das auf eine Weise, welche die unwahrscheinlichsten Fügungen wie selbstverständlich wirken lassen.

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    16 m
  • "Die Begegnung mit dem Toten" (Rudolf Borchardt)
    Sep 8 2025

    Eile, große Eile. Die Zeit wird knapp bis zum Treffen. Radfahrer, die den Lauf stören, Autos, die den Weg versperren. Großstadtgetümmel. Der Beginn der Erzählung „Die Begegnung mit dem Toten“ wirkt realistisch, ist aber pseudo-realistisch, wie wir bald bemerken. Denn nichts des anfangs Beschriebenen scheint im Verlauf der Geschichte verlässliche Erzählwirklichkeit zu sein. Wir Leserinnen und Hörer werden in einen so geschickt gebildeten Sog gezogen, dass wir lange glauben, es handle sich um eine Geschichte im üblichen Sinne. Doch dann ist es plötzlich vorbei damit. Es setzt etwas Neues ein. Ein Traum, ein Tagtraum, ein subjektives Sich-Herauslösen aus der objektiven Realität. Was dann folgt, ist ein surrealistisch anmutendes Gespräch zweier Leute, die einander zu kennen scheinen, doch jahrelang nicht gesehen haben. Dieses Treffen des Erzählers mit dem Toten, der „Gestalt“, die den Tod repräsentiert und symbolisiert, war offenbar geplant, ja von Beginn an das Ziel des ganzen Gehens, Geschehens gewesen. Dann wiederum wird das Sich-Lösen des Erzählers aus der äußeren Wirklichkeit ersetzt durch die Rückbindung an dieselbe – die Erzählung setzt da wieder an, wo sie schon einmal war, doch die Umgebung hat sich verändert, der Eingang des Buchladens, vor dem der Erzähler einst stand, ist vermauert. Was ist das alles? Eine Nahtoderfahrung? Oder eine Imagination, letztlich provoziert von dem „endlosen Begräbniszug“, von dem zu Beginn zu lesen ist?

    Literatur muss nicht ausgedeutet werden, sie wirkt in Szenen, die uns in Erinnerung bleiben. Und all diese Szenen erzeugen, wenn sehr gute Schriftsteller am Werk sind, ein Geflecht, ein Gewebe, das alle Szenen zusammenhält und die Gesamtwirkung überhaupt erst hervorbringt. In „Die Begegnung mit dem Toten“ wirken die Erzählteile nie wie auseinandergerissen und dann banal wieder zusammengepappt, sondern einheitlich. Und keine Szene in diesem Werk wirkt künstlich, falsch, gewollt oder gemacht. Stattdessen sehr bildhaft, so als wären wir dabei. Dies geht auf die Fähigkeiten des Autors Rudolf Borchardt zurück, seine Sprache, seinen Stil, sein Erzählvermögen, das eben eine sehr spezielle Atmosphäre entstehen lässt. Der Text entstand im Jahr 1928 und wird hier gelesen von Volker Drüke.

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    23 m