Episodios

  • "Drei Wünsche" (Johann Peter Hebel)
    Oct 6 2025

    Es liegt nahe, hier zu schreiben: Heute geht es um die Wurst! Das stimmt zwar, ist aber doch zu albern. Daher nochmal von vorne:

    Es war einmal eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat (frei nach Peter Handke). Oder doch nicht? Doch nur im Märchen? Johann Peter Hebel jedenfalls war ein Pfarrer und Autor in der romantischen Märchenzeit und schrieb volkstümliche Geschichten, die er 1811 in einem Bauernkalender versammelte. Darin veröffentlichte er u.a. „Drei Wünsche“, einen Text, der zu einem Klassiker wurde und in dem es eben ums Wünschen geht. Zugleich steht ein wirklich sehr gewöhnliches und literarisch aber ungewöhnliches Objekt eine bedeutende Rolle: die Bratwurst – ob mit Senf, ist nicht übermittelt (Ketchup gab’s im deutschsprachigen Kulturraum noch nicht). Und dann ist da noch ein Feenbesuch – der ist entscheidend.

    Das Ehepaar, das die Fee trifft, hat drei Wünsche frei und acht Tage Zeit, sich was zu überlegen. Das macht die beiden nervös, sie sprechen und handeln nun erst recht unbedacht. Bald geht es nur noch um die Wurst, die Bratwurst halt, die schließlich wie ein „Husarenschnauzbart“ unter der Nase der Frau hängt. Aus dem Plan einer möglicherweise zukunftsweisenden Wunscherfüllung wird nichts. Nichts als eine Bratwurst, die mal da ist, mal dort und schließlich wieder weg.

    Kalendergeschichten waren in längst vergangenen Zeiten durchaus in Mode und wichtig zur „Volkserziehung“. Literatur als Lehrmeisterin. So war das einmal. Und wer weiß? Vielleicht hat das Wünschen ja wirklich mal geholfen. In diesem kleinen Werk lässt es die Protagonisten jedenfalls ratlos zurück. Es liest Volker Drüke.

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    7 m
  • "Henry und Eliza" (Jane Austen)
    Sep 22 2025

    Die Literatur bietet Autorinnen und Autoren ein Feld für Ideen, Vorstellungen, Phantasien, die so wild oder verrückt und außergewöhnlich sein können, dass sie sie eben nur dort, auf diesem Feld, artikulieren können. Gerade in jungen Jahren wird gerne etwas ausprobiert, und das auch von Schriftstellerinnen, von denen die Leserschaft das überhaupt nicht erwarten würde. So hat Jane Austen in ihrem Frühwerk Texte geschrieben, die man/frau ihr nicht zugetraut hätte. So porträtiert sie in „Henry und Eliza“ eine Frau und beschreibt ihre Sozialisation in einer unerhörten Geschwindigkeit. Und immer wieder geschieht Eliza etwas Ungeheuerliches, was wohl auch mit ihr selbst zusammenhängt. Denn Eliza ist ein wundersames Wesen. Scheinbar ein Findelkind – das wird am Ende der Erzählung infrage gestellt –, kann sie bereits mit gerade mal drei Monaten sprechen. Und wird aufgenommen von englischen Adeligen – das ist ja mal ein sozialer Aufstieg! Doch sie passt nicht so ganz in die neue Umgebung, sie stiehlt – und wird vertrieben, und nun beginnt Elizas eigentlicher Aufbruch in die Welt, mit märchenhaften Zufällen und Auf- und Abstiegen, wie wir sie von Entwicklungsromanen kennen, die Jane Austen in späteren Jahren ja auch schrieb, mit denen sie berühmt wurde. Doch hier, in dieser Erzählung, geht alles extrem schnell. Szene folgt auf Szene, und manche ist deftig, derb und komisch im buchstäblichen Sinne. Etwa wenn Eliza bemerkt, dass ihre Kinder Hunger leiden, und dies „an dem Umstand, dass (sie) zwei ihrer Finger abbissen“! Das erinnert aus heutiger Sicht an Splatter-Szenen in Filmen, die erst 200 Jahre später entstanden. Jedenfalls geht das Ganze gut aus, Eliza kehrt zurück in die aristokratischen Gefilde. Und Henry, der Vater ihrer Kinder und im Titel immerhin an erster Stelle genannt? Ist da längst verstorben. Eliza aber, Eliza geht ihren Weg.

    Jane Austen hatte einen großen Einfluss auf die europäische Erzählliteratur im 19. Jahrhundert, insbesondere in Großbritannien, und schrieb diese Erzählung als junge Frau im Jahr 1790. Die Übersetzung von Melanie Walz liest für uns Monika Drüke, und das auf eine Weise, welche die unwahrscheinlichsten Fügungen wie selbstverständlich wirken lassen.

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    16 m
  • "Die Begegnung mit dem Toten" (Rudolf Borchardt)
    Sep 8 2025

    Eile, große Eile. Die Zeit wird knapp bis zum Treffen. Radfahrer, die den Lauf stören, Autos, die den Weg versperren. Großstadtgetümmel. Der Beginn der Erzählung „Die Begegnung mit dem Toten“ wirkt realistisch, ist aber pseudo-realistisch, wie wir bald bemerken. Denn nichts des anfangs Beschriebenen scheint im Verlauf der Geschichte verlässliche Erzählwirklichkeit zu sein. Wir Leserinnen und Hörer werden in einen so geschickt gebildeten Sog gezogen, dass wir lange glauben, es handle sich um eine Geschichte im üblichen Sinne. Doch dann ist es plötzlich vorbei damit. Es setzt etwas Neues ein. Ein Traum, ein Tagtraum, ein subjektives Sich-Herauslösen aus der objektiven Realität. Was dann folgt, ist ein surrealistisch anmutendes Gespräch zweier Leute, die einander zu kennen scheinen, doch jahrelang nicht gesehen haben. Dieses Treffen des Erzählers mit dem Toten, der „Gestalt“, die den Tod repräsentiert und symbolisiert, war offenbar geplant, ja von Beginn an das Ziel des ganzen Gehens, Geschehens gewesen. Dann wiederum wird das Sich-Lösen des Erzählers aus der äußeren Wirklichkeit ersetzt durch die Rückbindung an dieselbe – die Erzählung setzt da wieder an, wo sie schon einmal war, doch die Umgebung hat sich verändert, der Eingang des Buchladens, vor dem der Erzähler einst stand, ist vermauert. Was ist das alles? Eine Nahtoderfahrung? Oder eine Imagination, letztlich provoziert von dem „endlosen Begräbniszug“, von dem zu Beginn zu lesen ist?

    Literatur muss nicht ausgedeutet werden, sie wirkt in Szenen, die uns in Erinnerung bleiben. Und all diese Szenen erzeugen, wenn sehr gute Schriftsteller am Werk sind, ein Geflecht, ein Gewebe, das alle Szenen zusammenhält und die Gesamtwirkung überhaupt erst hervorbringt. In „Die Begegnung mit dem Toten“ wirken die Erzählteile nie wie auseinandergerissen und dann banal wieder zusammengepappt, sondern einheitlich. Und keine Szene in diesem Werk wirkt künstlich, falsch, gewollt oder gemacht. Stattdessen sehr bildhaft, so als wären wir dabei. Dies geht auf die Fähigkeiten des Autors Rudolf Borchardt zurück, seine Sprache, seinen Stil, sein Erzählvermögen, das eben eine sehr spezielle Atmosphäre entstehen lässt. Der Text entstand im Jahr 1928 und wird hier gelesen von Volker Drüke.

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    23 m
  • "Das Mädchen von Arles" (Alphonse Daudet)
    Aug 25 2025

    Ach, all diese Selbstmorde in der Literatur! Goethes Werther und Flauberts Madame Bovary sind zwei sehr berühmt gewordene Suizid-Figuren, viele weitere folgten: Baudelaire (vgl. "Der Strick" in diesem Podcast), Fontane, Hamsun, Hesse, Thomas Mann bis hin zu Bernhard, Handke und Julian Barnes in unserer Zeit schrieben über ausweglose Situationen solch unglücklicher Menschen. Und noch viele mehr. Längst nicht so bekannt wie die Werke dieser Autoren ist „Das Mädchen von Arles“, und auch sein Autor – Alphonse Daudet – gehört nicht zum Kreis der berühmt gewordenen Schriftsteller. Daudet lässt hier einen Knecht, den der Erzähler an einem wie verlassen wirkenden, aber wohl noch bewohnten Haus trifft, die Geschichte um den 20-jährigen Jan erzählen – verliebt in eine Frau, die sich mit „Samt und Spitze“ schmückt und anderen offenbar nicht geheuer ist; sie gilt als „kokett“ und als „liederliche Person“. Jemand streut Gerüchte über sie, erzählt Jans Vater von einer stattgehabten eigenen Beziehung zu ihr. Der Vater spricht mit seinem Sohn, und dann soll erst einmal Schluss sein mit der Schwärmerei!! Doch Jan liebt sie noch immer: „Es wird mein Tod sein, wenn ich sie nicht bekomme.“ Die Absolutheit der Jugend. Und seine Mutter? Sie verspricht „mit nassen Augen“: „Höre, Jan, wenn du sie trotz allem willst, werden wir sie dir geben ...“ Was für ein mütterliches Versprechen! Der Vater ist entsetzt, Jan wirkt fröhlich, spielt „den Lustigen“ für die Eltern, worauf der Vater meint, der Junge sei nun „geheilt“. Die Mutter aber weiß natürlich mehr über den Sohn. Väter gelten in der Literatur des 19. Jahrhunderts meist als rüde, grob, gefühllos, Mütter eher als die verstehenden, emotionalen, empathischen Begleiterinnen ihrer Kinder. Jans Mutter kämpft unentwegt um das Leben des Sohnes. Vergeblich. Sie hört schließlich nur noch den Aufprall seines Körpers nach dem Sprung aus dem Fenster.

    Wenn Kinder vor den Eltern sterben, wirkt es auf diese unnatürlich, wie dem eigentlichen Lauf der Dinge entgegengesetzt. Wenn ein Kind freiwillig aus dem Leben scheidet, kommen die Eltern erst einmal gar nicht auf solche Gedanken. Der Schock, das Leiden, das Trauma der Überlebenden, vielleicht auch ein Schuldgefühl, das sich dazugesellt, prägen das weitere Leben. Jans Vater trägt denn auch die Kleider des Verstorbenen, die Mutter geht seitdem täglich in die Messe. Das Schlussbild dieser Erzählung zitiert die in der Kunstgeschichte seit dem 14. Jahrhundert legendäre Pietà, die Schmerzensmutter, die ihren verstorbenen Sohn auf dem Schoß oder in den Armen hält. In den berühmten Skulpturen und Bildern heißen die Figuren Maria und Jesus – hier ist es die Mutter mit ihrem Jan.

    Die Erzählung erschien 1866. Es liest für uns Annette Hoppe, und das sehr einfühlsam.

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    11 m
  • "Der Weg der Pflicht" (Henry James)
    Aug 11 2025

    Henry James gilt international als einer der erzähl- und psychologisch raffiniertesten englischsprachigen Autoren des späten 19. Jahrhunderts. Deutsche Verlage jedoch geben Novellensammlungen heraus, die Titel wie „Gespenstergeschichten“ tragen – was die Erzählungen banaler wirken lässt als sie sind. James ist kein Unterhaltungsschriftsteller! Woanders ist die Rede davon, dass James Klatschgeschichten auf hohem Niveau geschrieben hätte. Und ja, dieser Autor verwendet ab und an solche Geschichten, doch es geht ihm im Grunde um etwas ganz anderes: um die Psychologie des zwischenmenschlichen Geschehens und die des Erzählens.

    In seiner Literatur kann es dann auch mal sein, dass ein Erzähler erst einmal eben nicht erzählt, was geschehen ist zwischen zwei Menschen/Figuren, sondern davon, unter welchen Umständen er sich selbst für die Vermeidung der „Enthüllung“ der Beziehung der beiden entschied. Zunächst ist in „Der Weg der Pflicht“ also gar nichts zu erfahren über die ganze Sache, um die sich eigentlich alles drehen sollte. Ob die Geschichte, für die sich zwei neugierige Damen so sehr interessieren, gut angeht und ausgeht, ob die beiden Figuren zusammenkommen, ob das überhaupt möglich war ... Das erfahren die Leser und Hörerinnen, wenn überhaupt, erst in späteren Kapiteln.

    Heute veröffentlichen wir das erste Kapitel der ganzen Geschichte, einen hochgradig selbstreflexiven Text, der für sich steht. Es ist ein Werk rund ums Zögern, um die Vermeidung – und die Gründe für das Zögern und das Vermeiden des Erzählens. Ein Text, der sich selbst zu begleiten scheint, der seine Entstehung zu erklären versucht, aber eben doch nicht so ganz. Ein Spiel mit dem Leser und der Hörerin. So war das in der Blütezeit der modernen Literatur: Nicht immer, aber sehr häufig dreht sie sich auch um sich selbst und ihre Wirkung auf das Publikum. Und hier, in James’ beeindruckendem Text, finden wir ein überragendes Beispiel für jene Werke am Ende des 19. Jahrhunderts, die den Weg bahnten für die Jahrzehnte später einsetzende neue Literatur-Ästhetik, deren berühmteste Vertreter Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka sind. Deren Vorläufer Henry James schrieb „Der Weg der Pflicht“ im Jahr 1884. Ingrid Rein übersetzte das Werk hervorragend ins Deutsche. Es liest Markus von Hagen.

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    6 m
  • "Im Siegeskranze" (Wilhelm Raabe)
    Jul 28 2025

    In der Medizin spricht man von einem multifaktoriellen Geschehen, wenn es um die Ursachen einer Störung geht. Immer seltener gehen die Forscher von einem einzigen Grund aus, sie sehen eher ein biopsychosoziales Ursachenbündel am Werk, insbesondere bei psychischen Erkrankungen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts war das anders. Da werden Figuren von einem Moment auf den nächsten „wahnsinnig“, „verlieren den Verstand“ oder sind nicht mehr erreichbar. Auch in Wilhelm Raabes Erzählung „Im Siegeskranze“ aus dem Jahr 1866 gibt es diesen einen Augenblick, der das Leben einer Frau völlig ruiniert, der sie verändert und von nun an verrückt werden lässt, verrückt vom eigenen Zentrum, aus der inneren Balance geraten. Ludowike heißt sie, und sie ahnte ihr Schicksal schon. Sie schrieb einen Trostbrief an den Vater ihres Bräutigams, als sie vom Tod des Geliebten erfuhr. Gefallen im Befreiungskrieg gegen napoleonische Truppen. Ab diesem einen Moment ist sie eine andere. Sie kehrt sich völlig in sich selbst, wie verkapselt, niemand kann sich ihr nähern. Und es ist kein Zufall, dass von diesem Ereignis ziemlich genau in der Mitte des Textes erzählt wird. Raabe war ein Autor, der sehr viel Wert auf die Gestaltung seiner Werke legte. Und seine Sprache, Symbole, Augenblicks- und Szenenbeschreibungen präzise einsetzte. So auch, wenn wir erfahren, dass die Nachricht vom Tod des Geliebten für Ludowike zugleich Sprachverlust und Schreibverlust bedeutete: „Die Schwester hat schön geschrieben wie der beste Schreibmeister, und ihre Gedanken konnte sie mit der Feder so trefflich hinstellen, dass keiner es besser machen konnte.“ Doch dann, als die Todesnachricht sie erreicht, wird der Brief, den sie verfasste, „mit einem Mal irr“ – „wie die, welche ihn schrieb“.

    Erzählen lässt Wilhelm Raabe dieses Familiengeheimnis und vieles drumherum von Ludowikes Schwester, die Zeugin des Geschehens gewesen war. Sie erzählt es der eigenen Tochter – und uns. Anders als Ludowike hat sie ihre Erzählstimme keineswegs verloren, im Gegenteil: Wilhelm Raabe verleiht ihr eine ganz eigene poetische Sprache. Und so traurig, mitleiderregend die Geschichte ist – an keiner Stelle spüren wir banale Sentimentalität. Es liest – ebenfalls unsentimental – Carola von Seckendorff.

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    1 h y 24 m
  • "Bis zur Dämmerung" (Franz Kafka)
    Jul 14 2025

    Folgte man dem Prinzip der aktuell gängigen Literaturbetrachtung, dem zufolge der Erzähler gar nicht vom Autor zu trennen ist, stammt der hier heute vorgestellte Text ja wohl von einem psychisch gestörten Menschen. Das Ganze wirkt – so gesehen – wie eine Derealisation des Autors, die auf eine dissoziative Persönlichkeitsstörung hinweist, die ihrerseits möglicherweise auf einem Trauma basiert, wahrscheinlich in der Kindheit erfahren. Der Erzähler entfernt sich in einer belastenden Situation von der Realität, kann bald die Fiktion nicht mehr von Realem lösen, er gerät in eine Art Rausch, in dem ihm alles durcheinandergerät.

    Doch es ist in der Literatur natürlich ganz anders: Franz Kafka war nicht persönlichkeitsgestört, sondern verfügte über das, was bereits Goethe als wesentlichen Antrieb der Schriftstellerinnen und Schriftsteller bezeichnete: Einbildungskraft. Hinzu kommen das Erzählen-Können und eine große Lust am Schreiben, die Kafka auch mal als Wollust bezeichnete. Diese ist in „Bis zur Dämmerung“ fast spürbar, so fiebrig, ja fast ekstatisch wirkt der Erzähler selbst. Er scheint vollkommen im Erzählten enthalten, es gibt scheinbar keine Distanz.

    Kafka erweist sich wieder einmal als ein Autor, der wie selbstverständlich Erhabenes mit Banalem, Bodenständigem verknüpft. Die Erscheinung eines Engels löst sich auf in der Erkenntnis, dass es dann doch kein „lebendiger Engel“ war, der das ganze Chaos provozierte, sondern „eine bemalte Holzfigur von einem Schiffsschnabel, wie sie in Matrosenkneipen an der Decke hängen. Nichts weiter.“ Die katastrophische, ja mindestens beunruhigende Zerstörung der Heimstätte, der eigenen Wohnung hat nie stattgefunden. Der Text ist eines der starken unbekannten Werke dieses Autors, trägt hier zum ersten Mal einen Titel und wird präsentiert von Volker Drüke. Franz Kafka schrieb ihn am 25. Juni 1914 in sein Tagebuch.

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    5 m
  • "Die Marquise von O...." (Heinrich von Kleist)
    Jun 30 2025

    Satzzeichen hört man nicht. Das ist schade. Denn die Novelle, die wir heute präsentieren, enthält den berühmtesten Gedankenstrich der deutschsprachigen Literatur. Und was er ersetzt, wofür er steht, ist etwas Abscheuliches: die Vergewaltigung einer Frau. Erzählt wird darüber nicht, jedoch davon, wie es dazu kam und was das alles bedeutet für die Marquise von O.... Verstoßen von den Eltern, die ihr nicht glauben, sich an nichts zu erinnern, veröffentlicht sie eine Zeitungsannonce, in der sie ihre Schwangerschaft bekanntmacht – und auch, dass sie den werdenden Vater „aus Familienrücksichten“ heiraten würde. Den Vergewaltiger! Den sie nicht kennt! Nach einigen Wirrungen taucht er auf. Was das in ihr, bei den Eltern, bei allen irgendwie Beteiligten hervorruft, ist an einigen Textstellen überraschend. Heinrich von Kleist ist ein Autor, der in seinen Prosawerken einer eigenen, sehr am Individuum und an der Emotionskultur der Empfindsamkeit orientierten Psychologie folgt – das wirkt manchmal verwirrend. Nahezu jede Szene ist dramatisch. Und Kleist schreibt radikal, exzentrisch. Die Wirkung all dessen ist immens. Selten in der Literatur begegnen wir einer solchen Erzähldichte und Gefühlsintensität, ohne dass das Ganze lächerlich oder kitschig wirkt. Das in „Die Marquise von O....“ Erzählte ist von alldem jedenfalls das Gegenteil: Es ist komplex und – entsetzlich! Zugleich ästhetisch schön.

    Es gibt in diesem Text noch ein weiteres wichtiges nicht hörbares Satzzeichen, und auch dieses repräsentiert ganz Wesentliches im Leben der Marquise. Ihrem Bruder, der ihr im Auftrag des gemeinsamen Vaters die Kinder wegnehmen will, erwidert sie: „Sag deinem unmenschlichen Vater, dass er kommen und mich niederschießen: nicht aber mir meine Kinder entreißen könne!“ Der eigentümlich gesetzte Doppelpunkt markiert den Trennungsakt vom Vater. Selbst die angedrohte Gewalt – bis hin zur Tötung der scheinbar unzüchtigen Tochter! – lässt sie unerschrocken: Die Kinder bleiben bei ihr. Die Emanzipation vom bislang gesetzgebenden Vater ist längst vollzogen. Daher das Detail „Sag deinem ...“ statt „Sag unserem ...“. Sie fühlt sich nicht mehr als seine Tochter. Und doch wird noch eine lange Versöhnungsszene der beiden wiedergegeben, die Kleist merkwürdig erotisch auflädt. Dieser Autor geht halt immer aufs Ganze. Ein Grenzenüberschreiter, ein Regel- und Tabubrecher.

    Sicher nicht nur: aber auch aufgrund dieser Szene sorgte die Novelle nach ihrem Erscheinen im Jahr 1808 für reichlich Protest und Unverständnis. So etwas hatte die Welt noch nicht gelesen. Wir präsentieren eine hervorragende Lesung von Margret Schmidt-John.

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    1 h y 44 m