Episodios

  • "Das Fliegenpapier" (Robert Musil)
    Apr 21 2025

    Wir haben hier bislang Werke vieler bedeutender Autorinnen und Autoren veröffentlicht, und es werden noch einige folgen. Welcher Name fehlte – und das fällt dann ja doch auf –, ist Robert Musil. Natürlich können wir sein zentrales Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ nicht aufführen, jenen Roman, der mehr als 1000 Seiten umfasst, jedoch eine kleine Erzählung, die eine erstaunliche Karriere in Deutsch-Kursen an Gymnasien und Gesamtschulen hierzulande machte. Musil gestaltete einen Text, der wie aus der Werbe-Industrie stammend wirkt, und doch gibt es da unentwegt eine andere Ebene in „Das Fliegenpapier“: Die Darstellung der Fliegen-Schicksale wird hier immer wieder mit metaphorischen Vergleichen mit Lebenssituationen von Menschen verknüpft. Und so waren denn auch viele Interpreten sicher, hier einen Text vor sich zu haben, der auf literarische Weise Kriegsleiden und die Ohnmacht der Menschen und so etwas auf allegorische Art darstellt. Musil selbst nannte das, was er geschrieben hatte, jedoch einen „Vorausblick“. „Das Fliegenpapier“ war bereits im Jahr 1913 unter dem Titel „Komischer Sommer“ in einer Zeitschrift erschienen; „und auch die ,Affeninsel‘ stammt aus dieser Zeit, was ich erwähne, weil man diese beiden sonst leicht für erfundene Umschreibungen späterer Zustände halten könnte. In Wahrheit sind sie eher ein Vorausblick gewesen.“

    So oder so ist dies ein erstaunlicher Text aus dem frühen 20. Jahrhundert, und wir präsentieren ihn in einer äußerst professionellen Aufnahme. Sarah Giese, Schauspielerin und Sprecherin aus Münster, liest Robert Musils Werk wunderbar klar. So schön in ästhetischem Sinne kann Grauenhaftes sein. Dazu ist nur die Kunst fähig.

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    5 m
  • "Der Liebestrank" (Stendhal)
    Apr 7 2025

    Eine Frau und ein Mann. Sie, Leonor, Spanierin, 19 Jahre jung, steckt offenbar in Schwierigkeiten und erzählt von ihrer unglücklichen Vergangenheit. Er, Liéven, hat sie leicht bekleidet und derangiert auf der Straße gefunden, ist armer französischer Leutnant und verehrt sie schnell, findet sie „wunderschön“. Schwört ihr Treue. Ungefragt. Sie erzählt von ihrem Ehemann und von ihrem Liebhaber und macht zugleich deutlich, dass sie ihn, den Leutnant, nicht lieben könne. Leonors Erzählungen haben etwas von einer Beichte, sie selbst nennt sich denn auch eine „Sünderin“. Der Zuhörer wirkt nun aber keineswegs wie jemand, der Vergebung gewährt oder Buße einfordert. Wenn sie erzählt – auch von zwischenmenschlichen Dreieckssituationen, von Betrügereien und Diebstählen –, wächst Liévens Leidenschaft für die Erzählerin Leonor stattdessen mit jedem Satz. Er wird immer verwirrter vor lauter Verliebtsein – in eine Frau, die unentwegt von anderen Männern erzählt und sich selbst „toll, wahnsinnig, pervers“ nennt! Entsteht seine Lust durch den (zumindest verbalen) Kontakt mit dem Verbotenen, Tabulosen?

    Was ist das für eine merkwürdige Beziehung?! Es sieht so aus, dass hier zwei extreme Persönlichkeiten aufeinandertreffen, die durchaus zueinander passen. Und ja, es gibt ja manchmal diesen einen Moment, der das Leben zweier Menschen oder literarischer Figuren radikal verändert. So auch hier. Nur nicht gemeinsam. Am Ende stehen Verzicht und Enthaltsamkeit! So war das oft im 19. Jahrhundert.

    Der Schriftsteller Stendhal hieß eigentlich Henri Beyle und arbeitete in der napoleonischen Zeit – vor seiner künstlerischen Karriere – in der französischen Verwaltung des Königreichs Westphalen (so schrieb man das einst), später als Konsul in Italien. Als Autor wurde er zu Lebzeiten vor allem durch den Roman „Die Kartause von Parma“ bekannt, nach seinem Tod wurde auch „Rot und Schwarz“ sehr erfolgreich. Die Geschichte „Der Liebestrank“, in sehr klarer Sprache erzählt, erschien erstmals im Jahr 1830 und wird hier gelesen von Thomas Holtzmann.

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    36 m
  • "Der Jäger Gracchus" (Franz Kafka)
    Mar 24 2025

    Die Eingangsbeschreibungen ähneln jenen im modernen Film. Blick folgt auf Blick, Perspektivenwechsel unentwegt, scheinbar unverbunden. Es gibt lange keine rechte Handlung. Nur Szenen. Doch dann treffen Gracchus und der Bürgermeister von Riva aufeinander. Gracchus wirkt zunächst tot. Steht aber auf, scheint zu leben. In Gracchus’ folgenden Erzählungen ist von Treppen die Rede, von einem Boot, Fenstern, Toren, auch von Schmetterlingen, einem Totenhemd, einem Hochzeitskleid – allüberall Symbole des Übergangs und der Verwandlung. Das kennen wir von Kafka, wir denken an die berühmte „Heizer“-Geschichte und auch an „Die Sorge des Hausvaters“ oder „Vor dem Gesetz“ (alle in diesem Podcast). Und doch ist „Der Jäger Gracchus“ eine ganz besondere Erzählung. Eine Art Ultimo-Schwellenerzählung, es geht um den letzten Übergang und die letzte Schwelle. Der Schritt ins Totenreich will dem Jäger einfach nicht gelingen. – Franz Kafka schrieb „Der Jäger Gracchus“ im Jahr 1917. Es liest Volker Drüke.

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    13 m
  • "Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau" (Achim von Arnim)
    Mar 10 2025

    Achim von Arnim schrieb seine Novelle „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“ im Jahr 1818. Die Schauspielerin, Sängerin und Sprecherin Christiane Hagedorn nimmt sich mehr als 200 Jahre später nicht irgendwie des Textes an, nein: Sie verwandelt ihn in ein modernes Hörspiel mit vielen Stimmen und Temperamenten, die allesamt sie selbst übernimmt. Auf der Basis eines Werks, das kaum noch jemand kennt, wird ein modernes Literatur- und Sprechkunst-Stück kreiert, und zwar eines, das seinesgleichen sucht. Ein Meisterwerk. Mehr muss man/frau gar nicht wissen, die Aufnahme spricht für sich. Oder?

    Nun, vielleicht ist es als Hintergrund-Info nicht uninteressant, dass der „Wahnsinn“, der in der Geschichte eine wesentliche Rolle spielt, bei von Arnim so komisch, ja lustig wirken darf, weil der Autor weiß, dass die Störung am Ende der Geschichte auch wieder verschwinden wird. Und wirklich wirkt Francoeur wie befreit und plötzlich gutmütig statt argwöhnisch, als der Knochensplitter das Schädelinnere verlässt. Auch nicht uninteressant ist, dass eine solche Verletzung, die Francoeur erlitt und als verantwortlich für sein teils krudes Verhalten – etwa seine arg übersteigerte, krank wirkende Eifersucht – dargestellt wird, ein Individuum wirklich derart beeinflussen kann, dass sein Wesen, sein Charakter, seine Art zu sein völlig umzudrehen imstande ist. In der medizinischen Wissenschaft bekannt geworden ist der Fall eines kriegsverletzten Mannes, der ... – Doch das ist eine ganz andere Geschichte, zurück zu von Arnims.

    Was für eine Eröffnungsszene! Unerhört! Zunächst harmlos wirkende Olivenäste im Feuer und Imaginationen von einem großen Feuerwerk. Dann brennt ein Holzbein! Eine Schürze noch dazu! Diese kleine, eher private und ziemlich komische Katastrophe zu Beginn der Novelle und eine drohende große, gesellschaftliche an deren Ende – die durch das Geschick und die Entschlossenheit Rosalies, Francoeurs Frau, vereitelt wird – rahmen das reiche Binnengeschehen ein. Das alles muss man erst einmal unterhaltsam gestalten und erzählen können. Achim von Arnim konnte das. Und Christiane Hagedorn verleiht den Szenen Anschaulichkeit, Bewegung und verhilft dem Text zu der Geltung, die ihm gebührt: dynamisch, dramatisch, derb-komisch, doch dabei durchweg differenziert in Darbietung und Diskurs. Was für eine Erzählkünstlerin! Und was für ein Erzählkünstler! So wird das Hören zu einem echten Erlebnis, zu einem Fest der Literatur.

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    50 m
  • "Ein Brief" (Hugo von Hofmannsthal)
    Feb 24 2025

    Philipp Lord Chandos, der fiktive Dichter in diesem Werk, möchte lieber über ein fernes „Hirtenfeuer“ und das letzte Herbst-Zirpen einer „dem Tode nahen Grille“ als über das „majestätische Dröhnen der Orgel“ schreiben. Die kleinen Objekte und alltäglichen Vorgänge liegen ihm. Dann schwebt ihm aber auch ein opulentes Multi-Kunstwerk vor, eine Mischung aus antiker Kunst und italienischer Renaissance, mit Festen, Aufzügen und allem drum und dran. Das schreibt er in einem Brief an Francis Bacon. Und all das, was er sich so vorstellt, wirkt unausgegoren, unfertig, unverträglich für Leser und Hörer. Hofmannsthals Künstler hat die Fähigkeit verloren, sich zu fokussieren, den Faden, der einzelne Ideen zu einem konsistenten Ganzen verbindet. So entsteht ein Wust, es gerät ihm alles durcheinander, so kann kein wirkungsvoller Text, so kann überhaupt kein künstlerisches Werk entstehen. Es bleibt bei Fragmenten und Worten, die „wie modrige Pilze“ zerfallen. Es ergibt nichts Zusammenhängendes.

    Vielfach wurde „Ein Brief“ als das Zeugnis einer Schreibkrise des Autors gedeutet. Das Werk belegt indes eindrucksvoll das genaue Gegenteil. Hugo von Hofmannsthal spielt die stets mögliche Krise eines Schriftstellers durch, er lässt auf sprachlichem Wege ablaufen, wie es wohl wäre, wenn er selbst in eine solche geriete. Und er offenbart – gerade mal 28 Jahre jung – seine Erzählkunst in bis dahin ungeahntem Ausmaß. Wort- und assoziationsreich und dabei doch konkret, anschaulich, eben nicht geprägt von einer „Kläglichkeit“ der Beispiele, wie der Text des fiktiven Dichters. Chandos, sein Alter Ego, scheitert als Künstler – Hofmannsthal reüssiert und bleibt stets der Souverän des Erzählten.

    Solche Hinweise scheinen inzwischen notwendig – in einer Zeit, in welcher der Literatur-Markt geflutet wird mit autobiographischen und autofiktionalen Titeln und in der die sogenannte literarische Öffentlichkeit immer weniger gewillt oder imstande ist, den Autor vom Erzähler zu trennen. Die Erzählung „Ein Brief“ erschien im Jahr 1902. Viele Jahre später gestaltet Stefan Nàszay daraus ein auch akustisches Ereignis.

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    30 m
  • "Allerleirauh" (Brüder Grimm)
    Feb 10 2025

    Es wirkt hier vieles spielerisch. Zwei Verliebte nähern sich einander an, es werden geheimnisvolle Zeichen gesendet, Ringe und andere Objekte ausgetauscht. Doch gleich zu Beginn des Märchens „Allerleirauh“ wird auch klar, was den tiefen, langen Schatten auf alles Weitere legt, was es untergründig so düster und lange ausweglos macht. „Ich will meine Tochter heiraten, denn sie ist das Ebenbild meiner verstorbenen Frau“, sagt der verwitwete König. Die Königin hatte kurz vor dem Ableben ihren Mann darauf eingeschworen, nach ihrem Tod keine Frau zur Gemahlin zu wählen, die weniger schön ist als sie selbst. Die Suche blieb ergebnislos. Da bleibt dann offenbar nur noch die inzwischen herangewachsene Tochter. Was für eine kranke Idee! Was für ein Frevel! Was für eine Arroganz dem Leben und der Entwicklung des eigenen Kindes gegenüber!

    Das Ganze ist eine Inzest-Geschichte bzw. eine, in der die Bedrohung eines inzestuösen Verhältnisses die Königstochter unentwegt begleitet. Die Gefahr begegnet der jungen Frau hier also nicht bei ihrem Aufbruch in die Welt – wie sonst so oft in Märchen –, sondern zu Hause. Und ja, es ist erstaunlich, wie kreativ sie ist, um der Bedrohung zu entkommen – vor allem aber ist es entsetzlich, wozu die Königstochter sich gezwungen fühlt, nur weil sie schön ist. Der Vater blockiert durch seine perverse Wahl die gesunde Reifung seiner Tochter, er beschädigt ihr Selbstbild, die dann glaubt, nur dazu da zu sein, „dass ihr die Stiefel an den Kopf geworfen würden“. Die junge Frau kann in einer solchen Umgebung nicht zu sich selbst finden – das berücksichtigt das Märchen deutlich, denn es lässt sie fliehen. Raus aus dem väterlichen Reich, das nur noch bedrohlich wirkt!

    Allerleirauh wird gefunden, geborgen aus einem „hohlen Baum“ von einem jungen und guten König – symbolisch wiedergeboren also. Doch erst als der junge Mann schließlich ihren Mantel, der im Text längst zum Symbol für die ihr von den Eltern auferlegte Last geworden ist, ergreift und von ihrem Körper reißt, wird sie endgültig befreit – ganz am Ende der Geschichte. „Da kamen die goldenen Haare hervor und sie stand da in voller Pracht und konnte sich nicht länger verbergen.“ Musste es vor allem nicht mehr. Denn ab sofort ist sie nicht länger auf der Flucht vor dem eigenen Vater, darf stattdessen im Sinne ihrer eigenen Wünsche, ihres wahren Selbst leben und über ihre Zukunft entscheiden. Dem Wunsch der Königin, der für die Tochter zum mütterlichen Fluch zu werden drohte, wird zu guter Letzt nicht entsprochen. – Der Text wurde um 1812 von Jacob Grimm geschrieben. Es liest Volker Drüke.

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    14 m
  • "Der Sandmann" (E.T.A. Hoffmann) (Teil 2)
    Jan 27 2025

    Es bleibt schaurig und wirkt bedrohlich! Wir hören von Bränden, einem gerade noch abgewendeten Duell, von „kindischer Gespensterfurcht“, einer Szene vor dem Traualtar, die in einer Katastrophe mündet. Wieder alles nur Einbildung des Nathanael?

    Er liebt nun Clara innig, wirkt eine Zeit lang wie erlöst von seinem Leiden, doch so bleibt es nicht. Es geht auf und ab mit ihm und seinen offenbar krankhaften Vorstellungen. Immer wieder das Feuer und die „Feuerkreise“, Holzpüppchen, ein Automat und natürlich Augen: Claras Augen, schön wie ein See, „in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur“ spiegelt, Olimpias Augen, starr und unbeweglich. Von Olimpia kann er sich kaum lösen, so fasziniert ist er. Sie wirkt wie ein Symbol für Nathanaels Bindung an sein Kindheitstrauma, als der Vater vor den Augen des Sohnes starb. Seine letzten Worte („Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“) zeigen, dass er weiterhin dirigiert wird vom Geschehen in seinen Kindertagen. Er sieht den wiederaufgetauchten Coppelius, der dann – nach Nathanaels Sturz auf das Steinpflaster – natürlich wieder, wie einst, spurlos verschwindet. War Coppola also wirklich Coppelius? Und Coppelius der Sandmann? Alle einer?

    In Hoffmanns Erzählung wirkt das gesamte dargestellte Geschehen direkt auf uns Leser und Hörerinnen ein, nirgends findet sich etwa eine Objektivierung des Phantastischen durch den Erzähler. Nein, hier geht das eine in das andere über, die Phantasie des Nathanael vermengt sich schließlich untrennbar mit der erzählten Realität. Diese konsequente Erzählhaltung sorgt für eine immense Textdichte, die typisch für E.T.A. Hoffmann und sicher auch dafür verantwortlich ist, dass dieser Autor im 19. Jahrhundert einer der einflussreichsten und meistgelesenen in ganz Europa war. „Der Sandmann“ ist seine unheimlichste Geschichte.

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    1 h
  • "Der Sandmann" (E.T.A. Hoffmann) (Teil 1)
    Jan 20 2025

    Ein „böser Mann“ sei der Sandmann, erzählt die Kinderfrau dem kleinen Nathanael. Er komme zu den Kindern, „wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Säckevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack“. Seine eigenen Nachkommen hätten „krumme Schnäbel, wie die Eulen“, damit pickten sie „der unartigen Menschenkindlein Augen auf“. Puh. Solche Geschichten machen Kindern Angst, wecken aber auch Interesse, zumindest das des Nathanael. Dem jungen Zuhörer des Ammenmärchens war in der Folge, wie er später erzählt, nichts „lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann“. Es ist nicht selten, dass sich bei einer so intensiven Beschäftigung mit Schauergeschichten in der kindlichen Psyche das Phantastische mit dem Realen vermischt. Und so ist es auch in Hoffmanns Erzählung. Denn als ein auf das Kind fremd wirkender Mann das Zuhause betritt, mit dem Vater in merkwürdiger Weise redet und dann auch noch Alchemie betreibt und „Augen her, Augen her“ ruft, dabei nach dem Jungen greift und auf dessen Augen zielt, ist jedenfalls Nathanael absolut klar: Das ist der Sandmann! Mit dem Unterschied, dass es nun anstatt der Sandkörner „glutrote Flammenkörner“ sind, „die dem Kinde in die Augen gestreut werden sollen, in beiden Fällen, damit Augen herausspringen“, wie Sigmund Freud treffend notierte. Überall Augen – immer wieder die Augen in dieser Geschichte!

    Was ist hier eigentlich wirklich geschehen? Was war Phantasie? Nicht nur im Kind, auch im Text selbst verschwimmt die Grenze zwischen erzählter Realität und erzählter Phantasie. Als Coppelius (so heißt der Mann) erneut auftaucht, wird das Heim jedenfalls endgültig unheimlich für Nathanael: Der Vater stirbt nach einer Explosion. Und Coppelius verschwindet spurenlos – der Mörder des Vaters, der er in der Wahrnehmung des Sohnes natürlich ist. Viele Jahre später meint Nathanael ihn wiedergesehen zu haben, mit ähnlichem Namen und getarnt als Optiker (wieder: Augen!). Ist das der Sandmann? Oder ein Doppelgänger? Ist das alles überhaupt geschehen? Was hat Nathanael wirklich erlebt, wahrgenommen? Was nur vor seinem inneren Auge, das noch immer vom kindlichen Trauma bestimmt ist?

    Er schickt, inzwischen Student, Briefe an Freunde, in denen er von seinem kindlichen Erleben und auch von der Wiederkehr des Sandmanns erzählt. Die Schrift setzt sich und setzt sein Erleben in ihm fest, verfestigt seine Vorstellungen. Es sind möglicherweise Flashbacks – Phasen des unwillkürlichen, ungeschützten Wiedererlebens furchterregender, ja traumatischer Kindheitserlebnisse oder -phantasien.

    Heute hören wir den ersten Teil dieser außergewöhnlichen und äußerst spannenden, unheimlich wirkenden Erzählung, gelesen von Ulrich Bärenfänger. „Der Sandmann“, zuerst erschienen 1816, ist eines der von Hoffmann selbst so genannten Nachtstücke. Und ja: Dunkel ist all das, was hier erzählt wird, augenscheinlich. Aus dem Schatten stammend. Aufregend. Atemberaubend.

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    37 m
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