Episodios

  • Im Gespräch mit ... Philipp Staab
    Sep 28 2025

    Man muss weder Prophet noch Marxist sein, um zu der Diagnose zu gelangen, dass der Kapitalismus seit geraumer Zeit schon an einer Systemkrise leidet – und diese hat nicht unwesentlich mit den Erschütterungen zu tun, die mit der Digitalisierung einhergehen. Wenn der Influencer zur Sehnsuchtsfigur wird, ja, zum Persönlichkeitsmodell, dem die jungen Menschen nacheifern, stellt sich die Frage, ob der Hintern von Kim Kardashian das Maß aller Dinge darstellt und ob die Aufmerksamkeitsökonomie, zuende gedacht, nicht auf das hinausläuft, was Nietzsche die Entwertung der Werte genannt hat. Aber weil uns dies als Trash-Faktor längst zur Alltäglichkeit geworden ist, ist klar, dass ein bloß kulturkritischer Ansatz an der Frage vorbeigehen muss, dass man sich stattdessen den strukturellen Veränderungen zuwenden muss. Genau dies ist ein Grund, sich mit Philipp Staab zu unterhalten, der sich die Frage des Digitalen Kapitalismus vorgenommen hat. Sind die Ökonomen über lange Zeit davon ausgegangen, dass der Mensch auf dem Stern der Knappheit lebt, hat Staab diesen Betrachtungswinkel umgedreht. Denn er fragt sich, wie sich die Ökonomie der Unknappheit auf die Märkte und Herrschaftsverhältnisse auswirkt. Wie lebt es sich in der Überflussgesellschaft, wenn der Preis für all die wunderbaren Annehmlichkeiten darin besteht, dass nicht mehr die Politik, sondern die Tech-Giganten darüber befinden, was Sache ist – und folglich res publica?

    Philipp Staab ist ein deutscher Soziologe, der am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zur Zukunft der Arbeit lehrt und forscht. Zugleich ist er Fellow des Einstein Zentrum Digitale Zukunft.

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    1 h y 30 m
  • Im Gespräch mit ... Franziska Sittig
    Sep 14 2025

    Zweifellos markiert der 7. Oktober eine historische Wasserscheide, haben die öffentlichen Feiern des Hamas-Pogroms doch deutlich gemacht, dass das »Nie-Wieder« der deutschen Erinnerungskultur frommes Wunschdenken ist. Eines der größten Rätsel dabei ist, wie und warum ausgerechnet Universitäten, die im letzten Jahrzehnt sich alle Mühe gegeben haben, sich als safe spaces zu etablieren, zu Horten eines neuen, nicht selten militanten Antisemitismus werden konnten. Dass mein Blick hier auf Franziska Sittig gefallen ist, ist insofern nicht erstaunlich, als sie als Studentin an der Columbia University aus nächster Nähe – und mit großer Verwunderung - hat beobachten können, wie noch am Folgetag studentische Hamas-Unterstützer sich auf dem Campus zusammenrotteten, unterstützt von einigen Mitgliedern der Professorenschar selbst. Und weil sie diese Ereignisse für verschiedene Zeitungen und Magazine aufnotiert hat, haben wir uns zu einem Gespräch darüber zusammengefunden. Als Boomer lernt man durchaus Erstaunliches dabei: dass man heutzutage von Zionazis spricht und auf TikTok Videoshorts zirkulieren, die sich die Leugnung des Holocaust zur Aufgabe gemacht haben.

    Franziska Sittig ist Collegiate Associate am Manhattan Institute. Sie studierte in Heidelberg und an der Columbia University in New York City. Sie veröffentlichte Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, für die Zeit, die Jüdische Allgemeine, Focus Money, Cicero sowie das US-amerikanische City Journal.

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    53 m
  • Im Gespräch mit ... Frank Urbaniok
    Aug 24 2025

    Wohl kein Thema hat die Öffentlichkeit in den letzten Jahren stärker verstört als die Migration, die, im Namen der Menschlichkeit, letztlich in eine Form der inneren Zwietracht, ja, des symbolischen Bürgerkriegs eingemündet ist. Hätte schon die Kölner Silvesternacht die Anhänger der Willkommenskultur lehren können, dass man in Gestalt unzähliger Neubürger durchaus neuartige Probleme gewärtigen muss (wie den Taharrusch dschama'i beispielsweise), war die Verführung, sich dem Rausch des moral grandstanding hinzugeben, doch allzu groß. So groß jedenfalls, dass die classe politique sich kurzerhand weigerte, die selbstgeschaffenen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen – während auf der anderen Seite das vielgescholtene „Pack“, in einer verstockten Schweigespirale befangen, sich dem Populismus ergab oder sich damit begnügte, in Leserbriefen das double speak des Einmann zu zergliedern. Die Folgen des gesellschaftlichen Schismas sind allüberall zu besichtigen: Invektiven sind zu einer politischen Währung geworden, während bürgerliche Tugenden in den Hintergrund gerückt sind. In jedem Fall muss der politische Beobachter diagnostizieren, dass der Verlust der äußeren Grenzen die innere Ausgrenzung zur Folge gehabt hat. Dass in dieser noch immer aufgeheizten Debatte mein Blick auf Frank Urbaniok gefallen ist, hat damit zu tun, dass sich hier jemand zu Wort meldet, der, aller xenophoben Neigung unverdächtig, die Entstehung des Problems aus nächster Nähe – und mit professioneller Distanz - hat verfolgen können. Denn als Psychiater, der zuallererst mit persönlichkeitsgestörten Sexualstraftätern beschäftigt war, kann man sich nicht mit der moralischen Verurteilung begnügen, sondern gilt es zuvörderst zu verstehen, was den Betreffenden zu seinem Handeln veranlasst. Dass Urbaniok, der in seiner Eigenschaft als Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes in Zürich, aber auch als Supervisor und Gutachter Tausende von Straftätern kennengelernt hat, sich der Frage der Migration zuwandte, hatte damit zu tun, dass er zunehmend mit Tätern zu tun hatte, deren Handeln eine kulturelle Prägung aufwies. Mehr noch als dies aber frappierte ihn das dröhnende Schweigen seiner Kollegenschar - dass Kriminologen und Migrationsforscher, statt unangenehme Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, dem den Schleier des Nichtwissenwollens vorziehen konnten. Genau dies hat ihn veranlasst, ein Buch zu den Schattenseiten der Migration zu verfassen, ein Buch, in das die Erfahrungen eines langen Berufsleben eingeflossen sind.

    Frank Urbaniok ist ein deutsch-schweizerischer forensischer Psychiater. Er war in den Jahren 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Zudem lehrt er an der Universität Konstanz Forensische Psychiatrie.

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    1 h y 11 m
  • In der Traumfabrik
    Aug 6 2025
    Weil man hier einem großes Thema gegenübersteht, das gleichermaßen mit praktischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Fragen zu tun hat, sind diese flüchtigen Bemerkungen nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer Texte zum TemaSehr geehrte Damen und Herren,ich will Ihnen ein paar Gedanken zu dem sonderbaren Verhältnis darlegen, das unsere Zeitgenossen zur »Künstliche Intelligenz« unterhalten. Und das konfrontiert uns mit dem befremdlichen Umstand, dass dem eine fast religiöse Qualität innezuwohnen scheint – oder weswegen sonst taucht im der Rede darüber reflexhaft das Wortpaar »Fluch und Segen« auf? Damit das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht vollständig abgehoben erscheint, lasse ich jetzt einfach ein paar Videoausschnitte nachfolgen, die wir auf dem ex nihilo Blog publiziert haben, im Zusammenspiel mit Dall-E und Google VEO, aber auch einer Software, die ich selber geschrieben habe. Diese Software ist insofern ziemlich ungewöhnlich, als sie klassische Essays, aber auch transkribierte Gespräche in visuelle Metaphern zurückübersetzt. Und weil unser Gehirn, genauer, weil unsere Sprache ein regelrechter Zauberkasten ist, erzeugen diese die verwegensten Bildkompositionen – Dinge, die ein noch so phantasiebegabter Mensch sich kaum einfallen ließe. Lassen Sie mich, während die Bilder an Ihnen vorüberlaufen, die Differenz in Worte fassen. Normalerweise sitzt man vor einem Prompt und sagt dem magischen Spiegel, was man zu sehen wünscht. Hier ist der Prozess ein ganz anderer. Ausgangsbasis ist ein geschriebener Text – oder ein transkribiertes Gespräch. Dann laufen mehrere Schritte ab. Die AI erstellt eine Zusammenfassung – und identifiziert darüber die Grundgedanken des Textes. Diese werden in Wortbilder übersetzt, also in Metaphern – und diese bilden die Bausteine, welche die AI dann in einen Prompt, also in eine Kompositionsanweisung übersetzt. Die Anweisungen werden gespeichert – und dann werden diese Bilder generiert. Die Ausgangsposition ist also nicht die frei flottierende Einbildungskraft, sondern ein mehr oder minder konsistenter Text – der ganz für sich alleine stehen will, ja, in seiner Entstehungsphase nicht einmal diesen Visualisierungsprozess antizipiert hat. Wenn wir den Begriff der Einbildungskraft nehmen, der ja einen unübersehbaren visuellen Einschlag besitzt, könnte man sagen, dass die visuelle Phantasie, auch wenn das Ganze am Ende in eine Form der Bildproduktion einmündet, hier gar keine Rolle spielt. Ausgangspunkt ist ein Gedankengerüst, ein Text, der versucht, den Leser in eine bestimmte Gedankenwelt hinein zu entführen. Das Kuriosum ist nun, dass diese Form der Text- und Gedankenlastigkeit gar keinen Nachteil darstellt. was ihrer Transformation in die Bilderwelt anbelangt. Ganz im Gegenteil: Wenn Walter Benjamin einmal festgehalten hat, dass ein Fotograf manche Dinge festhält, die sich ihm erst später, beim Entwickeln und Betrachten der Fotografie eröffnen – und wenn er dies ein „optisch Unbewusstes“ genannt hat –, so könnte man einen ganz analogen Vorgang hier festhalten. Denn der Autor des Textes wird, indem er erlebt, dass seine Sprachbilder eine Art Eigendynamik annehmen, mit einem „gedanklich Unbewussten“ konfrontiert - und je komplizierter und differenzierter Text ist, desto besser, vor allem überraschender sind die Resultate. Ich muss gestehen, dass mich dieser Prozess absolut fasziniert hat – umsomehr, als man sich hier in der Rolle eines Marcel Duchamp wiederfindet, der nicht mit einem Gebilde der eigenen Phantasie, sondern mit einem ready made konfrontiert ist. Man beschäftigt sich also gar nicht damit, irgendwelche Imaginationen auf den Schirm oder auf die Leinwand zu zaubern – sondern man schaut einfach bloß hin. Und aus diesem Grund besteht die entscheidende Aufgabe nicht in der Bildproduktion, sondern in der Selektion – und da ist man mit der Frage konfrontiert, warum dieses Bild die Phantasie anreizt, jenes aber nicht. Tatsächlich ermangelt es etwa drei Vierteln der resultierenden Bilder an einer solchen Qualität, sie mögen vielleicht ansprechend sein, aber sie berühren den Betrachter einfach nicht (was ja nach Baumgarten die eigentliche Aufgabe der Ästhetik ist, denn aisthesis meint ja ursprünglich berühren und wahrnehmen). Nach gut einem Jahr des Umgangs mit dieser Software muss ich gestehen, dass mich diese Form der Bildproduktion, die ja nachgerade so etwas wie eine Traumerzählung ist, weit mehr beschäftigt als alles, was man sich, wenn man denn vor einem leeren Prompt sitzt, so einfallen lässt. Denn letztlich kommt hier niemals mehr heraus, als was man sich zuvor hat einfallen lassen: garbage in, garbage out – oder wie Goethe das sehr viel eleganter gesagt hat: Man spürt die Absicht und man ist verstimmt.Wenn wir diesen Prozess auf seinen Materialwert abfragen, ist hier eine Umkehrung zu beobachten, die bemerkenswert ist. Wenn wir von Einbildungskraft sprechen, ja, wenn einige überaus...
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    26 m
  • Im Gespräch mit ... Andreas Hermwille
    Jul 25 2025

    Wenn ein so bizarres Phänomen wie das Task Masking, also die Vortäuschung von Geschäftigkeit, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, so kann man dies als einen Beleg dafür lesen, dass unsere Arbeitswelt, ganz unter der Hand, in ein Produktivitätstheater übergegangen ist. Und ganz offenkundig scheint das wesentliche Vermögen, das einem jungen Menschen hier abverlangt wird, in der Kompetenzsimulationskompetenz zu bestehen. Und weil unsereins, als Boomer, einer hoffnungslosen gestrigen Welt angehört, lag der Gedanke nahe, sich mit einem sehr viel jüngeren Menschen über diese Frage zu unterhalten. Dass mein Blick hier auf Andreas Hermwille fiel, hatte damit zu tun, dass er sich mit dem Phänomen des Loud Quitting beschäftigt hat (also der höchst geräuschvollen Performance, mit der ein junger Mensch vor den Augen seiner Social Media-Followerschar seine Trennung vom Arbeitgeber zelebriert) - und zudem, dass er, mit der Luhmannschen Systemtheorie im Gepäck, einen durchaus ausgenüchterten Blick auf die Verhältnisse besitzt – also genau das, was einen Organisationssoziologen auszeichnet.

    Andreas Hermwille arbeitet als Soziologe und Journalist für die Organisationsberatung Metaplan. Er verantwortet das zu Metaplan gehörige Magazin Versus - für kritische Organisationspraxis und ist Co-Host des Podcasts "Der ganz formale Wahnsinn", den er gemeinsam mit Professor Stefan Kühl von der Universität Bielefeld betreibt. Studiert hat Hermwille in Bielefeld, für die Ausbildung zum Radiojournalisten war er unter anderem beim Deutschlandfunk.

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    1 h y 38 m
  • Im Gespräch mit ... Matthias Heine
    Jul 2 2025

    Auf eine sonderbare Weise hat sich in den letzten Jahren eine fast Orwellsche Sprachpolitik eingebürgert, bei der sich einige Zeitgenossen, wie eine Art informeller Sprachpolizei, dazu ermächtigt fühlen, die Verlautbarungen ihrer Zeitgenossen zu klassifizieren. Mag man sich in der Überzeugung, dass die Welt nichts weiter ist als ein Sprechakt, ja dass selbst das Schweigen einen Gewaltakt darstellen kann (»silence is violence«), auf höchst zweifelhaftem philosophischen Fundament bewegen, hat die Sprach-Regulierungswut unterdessen auch Verwaltungen und Konzerne erfasst. Ja, im Gefolge der Hate-Speech-Hysterie kommt es nicht selten vor, dass die Verwendung eines »falschen« Wortes auch juristische Konsequenzen hat. Matthias Heine, der als Wissenschaftler an der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs mitgewirkt hat, hat sich dem Phänomen des Sprachumbaus, den er als gesamtgesellschaftliche Katastrophe begreift, in gleich mehreren Büchern genähert. Stellen diese zugleich einen Streifzug durch unsere Kulturgeschichte dar, der von Martin Luthers spätmittelalterlicher Legasthenie (14 Schreibweisen des Wortes »Wittenberg«) bis hin zu den Sprachinterventionen der Tagesschau reicht, wird darüber sichtbar, wie exzeptionell die derzeitigen Eingriffe in unsere Sprache sind. Wenn selbst ein Josef Stalin auf die Forderung seiner Parteigenossen, die russische Sprache von feudalen Überresten zu säubern, entgegnete, dass die Sprache seit jeher ein Volkseigentum darstelle, eine solche Forderung mithin unsinnig sei, begreift man, dass man es mit einem revolutionären Furor zu tun hat, der an Radikalität noch manche Verstiegenheit der Vergangenheit in den Schatten stellt. Schon aus diesem Grund war die Unterhaltung mit Matthias Heine überaus lehrreich – hat das Gespräch Perspektiven eröffnet, welche den großen Sprachumbau der Gegenwart in ein neues, durchaus überraschendes Licht tauchen.

    Matthias Heine, der zunächst als freier Journalist für die Welt, die FAZ und den Cicero schrieb, ist seit 2010 als Feuilletonredakteur bei der Welt tätig.

    Matthias Heine hat (u.a.) veröffentlicht:

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    1 h y 11 m
  • Im Gespräch mit ... Gerd Koenen
    Jun 26 2025

    Es gibt nur wenige Zeitgenossen, die sich mit den historisch-untergründigen Geistesströmungen beschäftigen, welche uns in die gegenwärtigen Kalamitäten hineingeführt haben – eine Welt, in welcher der Krieg zu einem Mittel der Politik geworden ist, der starke Mann zu einer Sehnsuchtsfigur – und autoritäre Gedankenfiguren eine bizarre Wiederauferstehung erleben. Mag sein, dass der Grund, der Gerd Koenen zur Anamnese unserer Gegenwart gebracht hat, mit der persönlichen Erfahrung der Kulturrevolution verwoben ist. Als Mitglied des SDS und des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, dessen Kommunistische Volkszeitung er als Redakteur betreute, befand er sich gleichsam im Zentrum des Geschehens - und konnte nach seinem Ausstieg aus der Bewegung, wie kaum ein anderer, die Geschichte der 68er Revolte nachzeichnen. In dieser Erzählung wird deutlich, wie die Traumpfade der Weltrevolution in einen geistigen Tunnel hineingeführt haben, in dem die Phantasmen der Stadtindianer in die Gewalttaten der RAF eingemündet sind. Als Historiker, der mit einer Psychoanalytikerin aus dem ehemaligen Ostblock verheiratet ist, darüber hinaus vielfältige Kontakte zur Solidarność und zu ausgebürgerten Dissidenten unterhielt (wie etwa Lew Kopelew), führte ihn die Problematik des real-existierenden Kommunismus zu der Frage, wie die politische Ökonomie eines Karl Marx in eine totalitäre Staats- und Gesellschaftsform umschlagen konnte. Weil aus dieser langen Beschäftigung mit der Frage des Kommunismus ein intensives Verhältnis zu Russland entstand, ist Koenen zum Chronisten auch jenes Wandels geworden, der uns heute in Gestalt des bellizistischen Putin-Russlands gegenübersteht. Und genau hier setzt unsere Unterhaltung an, die eine große geschichtliche tour de force geworden ist – und sich mit jenen gedanklichen Hohlräumen beschäftigt, die uns noch heute umtreiben. Dies mag der Frage gelten, ob der Marsch durch die Institutionen zu ihrer sukzessiven Aushöhlung geführt hat – und ob diese Form der politischen Evakuierung zum Erstarken antidemokratischer, ja, bellizistischer Grundhaltungen geführt hat, aber ebenso steht die Politik des Ressentiments und des gegenwärtigen Nihilismus auf dem Tablett.

    Gerd Koenen, 1944 geboren, war in jungen Jahren Mitglied des SDS und der KBW, nach seinem Austritt aus der Bewegung Redakteur des Pflasterstrands. Ihm verdankt sich eine wunderbare Chronik dieser Zeit: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. In der Folge hat er sich als Historiker in mehreren Büchern mit der Geschichte des utopischen Denkens und des Kommunismus beschäftigt – wobei zunächst das deutsche Verhältnis zu Russland, dann Russland selbst in den Vordergrund getreten ist.

    Von Gerd Koenen sind (u.a.) erschienen

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    1 h y 46 m
  • Im Gespräch mit ... Stefan Weber
    Jun 18 2025

    Vielleicht ist die Psychologie des Copy Pasters eine der größten Leerstellen unserer heutigen Zeit – hat man es hier doch mit einem Spezimen zu tun, das erst um die Jahrtausendwende, dann allerdings höchst massiv in Erscheinung getreten ist. Haben frühere Zeiten dieses Wesen, je nachdem unter das Werther-Syndrom oder den Bovarysmus zu subsumieren versucht, als eine Form, den eigenen „Roman zu leben“ , scheint das Design der eigenen Identität nun zur Lebensaufgabe geworden zu sein. Fällt einem dazu nur wenig ein, kann man sich mit einem Mausklick die Lebensleistung eines oder mehrerer anderer Menschen einverleiben. Ein solcher Schachzug ist umso attraktiver, als die akademischen Titel, ebenso wie der Nimbus des Autors eine gewisse soziale Reputation versprechen. Schon aus diesem Grund haben mich die Enthüllungen des Plagiatsjägers Stefan Weber stets interessiert. Dass sie ins Zentrum zahlloser politischer Skandale geführt haben (einfach deswegen, weil die Frage des Plagiats die charakterliche Integrität von Menschen berührt, die sich in der Öffentlichkeit zu moralischen Instanzen aufgeschwungen haben), ist bemerkenswert genug; sehr viel rätselhafter aber ist die zugrundeliegende Frage, nämlich, was Menschen dazu bewegt, sich mit falschen Federn zu schmücken, ja, was sie dazu verleitet, noch die intimsten Empfindungen, die eigenen Tränen z.B., zu plagiieren. So besehen stellt der Copy Paster beinahe so etwas wie ein unerforschtes Wesen dar, ja, könnte man ihm nachgerade den Slogan der Anonymus-Hacker zuschreiben:

    We are Anonymous. We are Legion. We do not forgive. We do not forget. Expect us.

    Tatsächlich sind die Plagiatsfälle, die Stefan Weber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, unterdessen Legion. Das beginnt mit dem Fall Karl-Theodor zu Guttenbergs 2011 – und setzt sich fort: Johannes Hahn, Norbert Lammert, Diana Kinnert, Matthias Döpfner, Annalena Baerbock – um nur die prominentesten Plagiatoren zu nennen. Interessanter jedoch als der trübe Umstand, dass die Identitätsfälschung zu einem Gesellschaftsspiel geworden ist, ist die Frage, was die zugrundeliegenden sozialen Faktoren sind – mehr noch, warum selbst Institutionen, die (wie die Universität) das höchste Interesse an der Integrität ihrer Forschung haben sollten, hier ein, nein mehr noch, alle beiden Augen zudrücken.

    Stefan Weber ist habilitierter Kommunikationswissenschaftler. Dass er zum berühmt-berüchtigten Plagiatsjäger wurde, ist der Tatsache geschuldet, dass seine eigene Doktorarbeit gleich ein dreifaches Plagiat erlebte – und somit auf höchst persönliche Weise auf diese Thematik gestoßen wurde. Unterdessen hat er die „Plagiatsjagd“ zur Lebensaufgabe gemacht – immer mit dem Blick darauf, dass das Problem der akademischen Integrität eine Frage ist, die in den Zeiten von ChatGPT das Fundament der heutigen Wissensproduktion affiziert.

    Von Stefan Weben sind (u.a.) erschienen:

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    2 h