Es braucht eine gewisse Zeit, um all die handelnden Personen so aufzustellen, dass sich daraus ein einigermaßen stimmiges Bild ergibt – in einem Handlungsrahmen von hoher Komplexität. Erschwert wird dieser Prozess durch eine ungewohnte, gewöhnungsbedürftige hölzerne Sprache mit zunächst unbekannten Namen und Orten (allein der Name der Hauptakteurin variiert zwischen Warja, Warenka, Warwara und Barbara). Auch die kriegerischen Parteien und Handlungen fordern einige Aufmerksamkeit, zumal die historisch belegten „Kriegsspiele“ in einer nicht unbedingt präsenten Epoche (1877/1878, Russisch-Osmanischer Krieg) stattfinden.
Man ist also gut beraten, sich mit einem gut gespitzten Bleistift zu bewaffnen (!). Ansonsten wird man die Vielfalt der Akteure, deren Verbindungen und Intrigen, sowie den damit verknüpften militärisch-politischen Interessen der sich bekriegenden Parteien (Russland und Türkei) schwerlich bändigen können. Ein willkommener Nebeneffekt: Durch die visuell erarbeiteten Landschaftsräume kann man seine Geographiekenntnisse so ganz nebenbei auffrischen, von den Geschichtskenntnissen mal ganz abgesehen, da sich der Roman sehr stark an historischen Gegebenheiten orientiert.
Der historische Hintergrund wird auch dadurch gut abgebildet, dass jedem Kapitel ein erklärender Zeitungausschnitt von verschiedenen europäischen Zeitungen vorgeschaltet ist. Dies hilft nicht nur die Geschichte besser zu verstehen, sondern auch einige der journalistischen Akteure in die Geschichte einzubinden. Sie bilden quasi, neben den Kriegshandlungen, den Kitt des Romans. Allerdings bleibt der eigentliche Protagonist, Erast Fandorin (20), seines Zeichens serbischer Ermittler in russischen Diensten, über längere Passagen äußert blass und wird größtenteils von seiner Assistentin, Warja Suworowa (21), ins handelnde Abseits gestellt. Doch im letzten Viertel des Romans läuft der Ermittler zur Höchstform auf und die so wechselhafte Geschichte enthält hier sogar einige bemerkenswerte, nachdenklich stimmende Passagen: „‘Ich meine diejenigen Länder, in denen der Mensch nach und nach lernt, sich und andere zu achten, nicht mit dem Knüppel, sondern mit der Überzeugung zu siegen, Schwache zu unterstützen, Andersdenkende zu tolerieren.“
Man kommt also so einiges geboten. Voraussetzung für ein außergewöhnliches Leseereignis ist allerdings eine gewisse Hartnäckigkeit beim Entwirren der Geschichte. Es ist kein Roman, den man zur (geistigen) Entspannung lesen könnte.